Vernehmlassungsantwort auf den Gegenvorschlag

Offizielle Vernehmlassungsantwort des Vereins für eine inklusive Schweiz zum Entwurf des indirekten Gegenvorschlags zur Inklusions-Initiative

Vernehmlassungsantwort auf den indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative
«Für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Inklusions-Initiative)»

Bern, 08. September 2025

Sehr geehrte Frau Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider,

sehr geehrte Damen und Herren

Wir bedanken uns für die Möglichkeit, im Vernehmlassungsverfahren zum indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Inklusions-Initiative)» Stellung nehmen zu können. 

Menschen mit Behinderungen sind in der Schweiz nach wie vor mit tiefgreifenden und weitreichenden Einschränkungen ihrer Rechte konfrontiert. Die Inklusions-Initiative soll ihre Lebenssituation verbessern. Sie verlangt die Umsetzung der 2014 von der Schweiz unterzeichneten Behindertenrechtskonvention der UNO (UN-BRK). Denn bis heute fehlen eine Strategie zur schrittweisen Umsetzung der UN-BRK und die erforderlichen Massnahmen. 

Deshalb sind die Inklusions-Initiative und der entsprechende indirekte Gegenvorschlag des Bundesrates für viele Menschen mit Behinderung mit grossen Hoffnungen verbunden. 

Leider ist der Entwurf des Gegenvorschlags für mich eine grosse Enttäuschung. Denn er verpasst die Umsetzung der UN-BRK und nimmt die Anliegen der Inklusions-Initiative nicht genügend auf. 

Er stellt keine Weichen für eine fortschrittliche Behinderten- und Inklusionspolitik der nächsten Jahrzehnte. Der Entwurf des Inklusionsgesetzes (InG) definiert einen Behinderungsbegriff, von dem drei Viertel der Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen sind. Im Bereich Wohnen wird die Chance verpasst, einen Rechtsanspruch von Menschen mit Behinderungen auf selbstbestimmtes Wohnen zu verankern und die Verpflichtungen von Bund und Kantonen klarzustellen. Eine klare und mit den Kantonen koordinierte Gesamtstrategie zur Sicherstellung des selbstbestimmten Wohnens wird nicht verankert. Im Rahmen des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG) wird zudem die Möglichkeit verpasst, den Zugang zu notwendigen Assistenz- und Unterstützungsleistungen sowie modernen Hilfsmitteln zu öffnen und diese Leistungen zu stärken. 

Insgesamt bietet der Entwurf des Gegenvorschlags keinen bedeutenden Mehrwert für Menschen mit Behinderungen. Er zielt weit an ihren berechtigten Forderungen vorbei. Soll der Gegenvorschlag eine Antwort auf die Inklusions-Initiative sein, so muss er stark verbessert werden.

Mit freundlichen Grüssen,

Islam Alijaj, Präsident Verein für eine inklusive Schweiz

Iris Hartmann, Geschäftsleiterin Verein für eine inklusive Schweiz


Im Detail

1 - «Schaffung eines Bundesgesetzes über die Inklusion von Menschen mit Behinderungen»

Der Vernehmlassungsentwurf des neuen Bundesgesetzes über die Inklusion von Menschen mit Behinderungen (VE-InG) ist in dieser Form nicht akzeptabel. Diese Punkte müssen verbessert werden: 

Erfasste Personen: Der Vernehmlassungsentwurf erfasst nur Personen, welche eine Leistung der Invalidenversicherung beanspruchen (Art. 1 Abs. 1 VE-InG). Das sind rund 450’000 Personen. In der Schweiz leben aber mehr als 1,9 Millionen Menschen mit Behinderungen im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes. Somit erfasst das neue Inklusionsgesetz nur einen Viertel der von einer Behinderung betroffenen Personen. Das Gesetz muss zumindest grundsätzlich alle 1,9 Millionen Menschen, die in der Schweiz mit einer Behinderung leben, erfassen.

Erfasste Bereiche: Ein Inklusionsgesetz muss für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen sorgen. Statt alle Lebensbereiche abzudecken, beschränkt sich der VE-InG aber thematisch auf den Bereich Wohnen. 

Verbindlichkeit: Das Gesetz muss neu so formuliert werden, dass konkrete und verpflichtende Massnahmen für Bund und Kantone daraus folgen. Die im Vorentwurf festgehaltenen Bestimmungen sind aktuell unverbindlich und müssen zwingend im Gesetz festgehalten werden. 

Rechtsansprüche: Menschen mit Behinderungen müssen ihre Rechte auch im Einzelfall einfordern können. Nur so kann gewährleistet werden, dass die festgehaltenen Rechte auch eingehalten werden. Deshalb sind Rechtsansprüche im Gesetz zu verankern. Im Vorentwurf fehlen solche Rechtsansprüche. 

Umsetzung: Für die Umsetzung der UN-BRK ist ein strukturiertes Vorgehen nötig. Im Vorentwurf fehlt die klare Verpflichtung, dass Bund und Kantone eine gemeinsame Strategie und einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK vorlegen müssen. Es muss ein Abschnitt mit organisatorischen Vorkehren und Handlungsinstrumenten eingefügt werden, der den Rahmen der Inklusionspolitik und deren Weiterentwicklung in den nächsten 20 Jahren sicherstellt. 

Überprüfung: Die UN-BRK verpflichtet die Schweiz zur Einrichtung einer unabhängigen Stelle zur Überprüfung der Umsetzung. Im Vernehmlassungsentwurf fehlen Bestimmungen, die dafür sorgen, dass die Fortschritte der Schweiz bei der Umsetzung der UN-BRK laufend überprüft werden (Monitoring).

2 - Zum Vernehmlassungsentwurf «Teilrevision Invalidenversicherungsgesetz» 

Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG) sind begrüssenswert. Auch die in Aussicht gestellten Anpassungen in einer nächsten Revision der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) sind begrüssenswert. Sie reichen jedoch bei Weitem nicht aus, um den Anliegen der Inklusions-Initiative Rechnung zu tragen. Diese Punkte müssen zusätzlich aufgenommen werden: 

Verbesserung des Zugangs zum Assistenzbeitrag: Heute sind viele Menschen mit Behinderungen vom Assistenzbeitrag ausgeschlossen. Im Jahr 2024 haben nur 5’000 Personen von über 1,9 Millionen Menschen mit Behinderungen einen Assistenzbeitrag bezogen. Es braucht dringend einen verbesserten Zugang zum Assistenzbeitrag. Hier muss insbesondere an diese Personengruppen gedacht werden: 

  • Personen mit einer Sinnesbehinderung

  • Personen im AHV-Alter

  • Personen mit einer Hilflosenentschädigung der Unfallversicherung (UV) und der Militärversicherung (MV)

  • Minderjährige, die nicht unter Art. 39a IVV fallen

  • Schwerhörige und gehörlose Erwachsene

  • Personen mit einer psychischen Beeinträchtigung ohne IV-Rentenanspruch

Verbesserung des Systems des Assistenzbeitrags: Damit der Assistenzbeitrag eine selbstbestimmte Lebensführung sicherstellen kann, muss das System in sich deutlich verbessert werden. Die Anforderungen, die ein Assistenzbeitrag mit sich bringt, sind immer noch sehr hoch. Es braucht insbesondere: 

  • weniger administrativen Aufwand

  • höhere Assistenzbeiträge

  • mehr Beratungsleistungen

  • Zulassung von mehr Personen als Assistenzpersonen

  • Aufhebung der Kürzungen beim Assistenzbeitrag für Personen im 2. Arbeitsmarkt

Verbesserung bei Hilfsmitteln: Damit Menschen mit Behinderungen aller Altersgruppen gesellschaftliche Kontakte pflegen und am Berufsleben teilnehmen können, sind sie auf ausreichende Hilfsmittel und Unterstützungsleistungen angewiesen. Nur wenn der Zugang zu Hilfsmitteln und Unterstützungsleistungen sichergestellt ist, ist auch die soziale Teilhabe und die Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben sichergestellt. Sollen Hilfsmittel zur gesellschaftlichen Teilhabe und Inklusion beitragen, muss die Liste der Hilfsmittel im AHV-Bereich deutlich ausgebaut und der Liste der Hilfsmittel im IV-Bereich angeglichen werden. Insbesondere muss der Zugang zu Hörgeräten im AHV- und im IV-Bereich verbessert werden. 

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